Gedenkworte am 27.01.2018 bei der Kranzniederlegung Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus von Maximilian Tauscher
Fast auf den Tag genau 3 Jahre nach der berüchtigten Wannsee-Konferenz, auf der die Endlösung der „Judenfrage“ beschlossen wurde, befreiten am 27. Januar 1945 Soldaten der Roten Armee das deutsche Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Die Soldaten konnten nur langsam begreifen, was sie dort sahen: Zehntausende Gefangene hatten die Nazis in den Tagen zuvor auf den Todesmärschen nach Westen laufen lassen. Zurückgeblieben waren nur gut 7000 Alte, Kranke und Schwache, die die Nazis ihrem Schicksal überließen.
Auf dem Gelände aber sahen die Soldaten die Zeichen des Grauens der Ermordung von über einer Million Juden, 140.000 polnischen Gefangenen, zehntausenden Sinti und Roma, Kommunisten und Anderer, die von den Nazis entmenschlicht und als unwert betrachtet wurden.
Auschwitz war weder das erste noch das letzte Konzentrationslager, das befreit wurde, aber Auschwitz ist ein Synonym für das millionenfache Morden. Die Befreiung der Konzentrations- und Vernichtungslager zog sich über ein knappes Jahr hin und hatte am 23.Juli 1944 mit der Befreiung des KZ Majdanek in Polen begonnen.
Dass erst am 3. Januar 1996 durch Proklamation des Bundespräsidenten Roman Herzog der heutige Gedenktag eingeführt und festgelegt worden war, wirft auch Fragen nach der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands vor der Wiedervereinigung auf.
Hinsichtlich der Toten der NS-Herrschaft gilt auch heute noch, was Reinhard Henkys 1964 schrieb: "Eine annähernd genaue, von allen Fachleuten akzeptierte Statistik der Todesopfer nationalsozialistischer Verbrechen gibt es nicht. Die Gründe dafür liegen in dem unvorstellbaren Ausmaß dieser Taten, in der strikten Geheimhaltungspolitik des Staates, der Vernichtung der meisten einschlägigen Akten, der Verquickung von Ausrottungsaktionen mit Kriegshandlungen und in der Unvollkommenheit der demographischen Unterlagen, die aus den osteuropäischen Staaten, vor allem aus der Sowjetunion zur Verfügung stehen."
Nach den derzeitigen Ermittlungen sind dem nationalsozialistischen Regime in Europa durch verbrecherische Maßnahmen (also ohne Einbeziehung der Kriegshandlungen) insgesamt mindestens 13 Millionen Menschen zum Opfer gefallen.
Diese Gesamtzahl setzt sich im einzelnen zusammen aus:
- etwa 6 Millionen Juden,
- etwa 3,3 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen (die man mehr oder weniger absichtlich umkommen ließ),
- etwa 2,5 Millionen christlichen Polen,
- mindestens 100.000 Zwangsarbeitern aus der Sowjetunion,
- mindestens 500.000 in deutschen Arbeitslagern und Konzentrationslagern umgekommenen Jugoslawen,
- mindestens 100.000 tschechoslowakischen Zivilisten,
- mindestens 84.000 ums Leben gekommenen nichtjüdischen Deportierten aus den nord - und westeuropäischen Staaten (einschließlich Italien),
- etwa 219.600 Sinti und Roma verschiedener Nationalität,
- etwa 100.000 vorwiegend deutschen Geisteskranken und Behinderten
(sogenannten Euthanasie-Opfern),
- etwa 130.000 nichtjüdischen Personen deutscher Staatsangehörigkeit, die aus politischen oder religiösen Motiven aktiven oder passiven Widerstand gegen das Regime leisteten.
Mit den Kriegshandlungen sind 60 Millionen Tote zu beklagen. Der NS gehört in den Zusammenhang der europäischen faschistischen Bewegungen der Zeit zwischen dem ersten und dem zweiten Weltkrieg, die außer in Deutschland nur in Italien aus eigener Kraft und ohne ausländische militärische Unterstützung an die Macht gekommen sind. Der NS stellt innerhalb der europäischen Faschismen aufgrund seines Rassenantisemitismus und seiner Vernichtungspolitik die radikalste Variante dar.
Fragt man heute nach dem Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in der DDR, so stößt man schnell auf die Formel vom »verordneten Antifaschismus«, der anderen Formen der Auseinandersetzung keinen Raum ließ. In der Tat wurde von der Staats- und Parteiführung seit der Gründungsphase der DDR ein dogmatisches antifaschistisches Konzept umgesetzt, welches die Legitimation des Staates, seiner Führung und deren Politik begründete. Es blieb bis zum Schluss fest in der politischen Staatskultur der DDR verankert.
Die Voraussetzungen des staatstragenden Antifaschismus
Man kann die Erinnerung in der DDR nicht beschreiben, ohne die Grundlagen des kommunistischen Antifaschismus-Konzeptes zu beleuchten. Die Basis der Interpretation der Vergangenheit war der kommunistische Faschismusbegriff. Spätestens seit dem 7. Weltkongress der Kommunistischen Internationale (Komintern) 1935 hatten KPD-Anhänger den Faschismus im Wesentlichen als eine »besonders terroristische, chauvinistische und imperialistische Form des Finanzkapitalismus« bestimmt. Mit seiner Hilfe, so die Argumentation, hätten die Monopolkapitalisten seit 1933 noch aggressiver versucht, ihre wirtschaftliche und politische Macht zu erhalten, die durch den wachsenden Einfluss der Arbeiterbewegung und die bevorstehende sozialistische Revolution gefährdet gewesen sei.
Die deutsche Barbarei könne und müsse demnach durch die marxistischleninistische Analyse von Kapitalismus und Klassenkampf erklärt werden. Die Kommunisten, die 1945 vor allem aus dem Moskauer Exil mit der Roten Armee ins Land zurückkamen und begannen, eine Gesellschaft nach ihren Maßgaben aufzubauen, zogen daraus eindeutige Konsequenzen:
Wenn die Barbarei in den sozioökonomischen Grundlagen der kapitalistischen Gesellschaft angelegt ist, so schafft man durch die Enteignung des Großkapitals und Großgrundbesitzes Verhältnisse, die (laut Definition) ein Wiederaufleben des Faschismus ausschließen.
Es gibt mittlerweile unzählige Bücher und Artikel, die sich mit der offiziellen Vergangenheitspolitik der DDR beschäftigen. Derartige Analysen können aber kaum beschreiben, welche Auswirkungen das antifaschistische Konzept auf die private Erinnerung der DDR-Bürger und deren Befindlichkeiten hatte.
Schauen wir mal auf das Jahr 1945.
Für die sowjetische Zone konstituierte sich am 9. Juni 1945 eine Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD), an deren Spitze der Oberbefehlshaber der sowjetischen Besatzungstruppen stand. Bis zum April 1946 war dies Marschall Georgi Schukow; sein Nachfolger wurde Marschall Wassili Sokolowski. Die politische, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung des Besatzungsgebietes lag bis Oktober 1949 in der alleinigen Verantwortung der SMAD. Bereits am 19. Mai 1945 setzte die Sowjetische Militäradministration einen antifaschistischen Magistrat für das gesamte Stadtgebiet von Groß-Berlin ein.
Seit dem Sommer 1945 werden in zahlreichen Städten aller vier Besatzungszonen Ausschüsse für die Opfer des Faschismus gegründet und den Stadtverwaltungen angegliedert. Als die Jahrestage der Ermordung Ernst Thälmanns (18.8.1944), Rudolf Breitscheids (24.8.1944) und der Widerstandskämpfer des 20. Juli bevorstehen, ergreifen ehemalige politische Häftlinge die Initiative zur Begründung eines Gedenktages für die Opfer des Faschismus. Aus diesem Anlass
wendet sich der Berliner „Hauptausschuss Opfer des Faschismus“ am 3. August an den Oberbürgermeister Dr. Arthur Werner. Der Berliner Magistrat nimmt sich dieses Anliegens an. Er ruft erstmals für den 9. September 1945 zum „Tag der Opfer des Faschismus“ auf.
Die neu zugelassenen antifaschistisch-demokratischen Parteien, deren Gründung mit der Verpflichtung durch die SMAD verbunden war, Beschlüsse für politisches Handeln immer einstimmig zu fassen, die Kirchen, die Gewerkschaften und Jugendausschüsse unterstützen den Gedenktag. Im Zentrum der Ehrung stehen die „toten Helden des antifaschistischen Kampfes“, wie es im Aufruf des Berliner Hauptausschusses „OdF“ heißt.
Auch in zahlreichen Städten Sachsens, in Brandenburg, Weimar, Neumünster und Stuttgart finden im September 1945 Gedenktage für die Opfer des Faschismus statt. Das von dem Baustadtrat Hans Scharoun entworfene Ehrenmal trägt die Inschrift: „Die Toten mahnen die Lebenden“, das Motto des ersten OdF-Tages. Unter den Buchstaben „KZ“ steht der rote Winkel der politischen Häftlinge, der sich seither auf zahlreichen Plakaten, Aufrufen, Denkmälern, Publikationen und Abzeichen findet.
Hier will ich anmerken, dass die Kennzeichen für Schutzhäftlinge in den Konzentrationslagern in Form und Farbe sehr unterschiedlich sind. Unmittelbar nach Beendigung des Krieges galt die Erinnerung in der sowjetischen Besatzungszone allen Opfergruppen. Es war unerheblich, ob es sich um Widerstandskämpfer kommunistischer, bürgerlicher oder christlicher Couleur handelte oder ob die Verfolgung aus rassistischen Gründen erfolgte. Kurz nach Kriegsende 1945 wurden als "Opfer des Faschismus" diejenigen bezeichnet, die "unter der Hitlerdiktatur heldenmütig für die Freiheit des deutschen Volkes' gekämpft hatten, sowie die 'Hinterbliebenen der von den Faschisten ermordeten Helden des deutschen Freiheitskampfes'".[3] Die Weiterführung des Zitats verdeutlicht jedoch, dass eine Hierarchisierung der Opfergruppen im Interesse der kommunistischen Erinnerungskultur und des Geschichtsbewusstseins vorgenommen wurde. Denn es heißt weiter: "'Opfer des Faschismus' sind die Juden, die als Opfer des faschistischen Rassenwahns verfolgt und ermordet wurden, sind die Bibelforscher und die Arbeitsvertragssünder. Aber so weit können wir den Begriff 'Opfer des Faschismus' nicht ziehen. Sie haben alles geduldet und Schweres erlitten, aber sie haben nicht gekämpft."[4]
Vor allem die Spitze der SED sah in den kommunistischen Widerstandskämpfern die bedeutendste Gruppe, die stets hervorgehoben wurde. So wurde zwischen "Opfern des Faschismus" und den "Kämpfern gegen den Faschismus" unterschieden. Die Erinnerung an die anderen Opfer wurde somit sekundär und verschwand größtenteils aus dem öffentlichen Gedächtnis.[5] Jürgen Danyel weist darauf hin, dass "in der DDR [...] die Euthanasie-Opfer, die Sinti und Roma, die 'Asozialen', die Homosexuellen und andere Minderheiten zu den lange vergessenen Opfergruppen"[6] gehörten.
„Die Erinnerung darf nicht enden; sie muss auch künftige Generationen zur
Wachsamkeit mahnen.“