Wenn die Erinnerungen kommen - über ein Leben nach dem Holocaust
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MAGAZIN – LEBEN IN ISRAEL
Publiziert am 2. Februar 2016 in Israel Zwischenzeilen/Reportagen
Wenn die Erinnerungen kommen – und sie kommen, denn sie verschwinden nie – und sie nicht darüber reden wollen, singen Regina und Zwi Steinitz das deutsche Volkslied Die Gedanken sind frei. „Kennen Sie doch, oder?“, fragt Regina Steinitz und beginnt sofort zu singen:
„Die Gedanken sind frei,
wer kann sie erraten,
sie fliehen vorbei
wie nächtliche Schatten.
Kein Mensch kann sie wissen,
kein Jäger erschiessen,
es bleibet dabei:
die Gedanken sind frei.“
„Das haben wir damals gesungen, in der jüdischen Mädchenschule in Berlin. Von der Freiheit, so etwas haben wir gesungen, während die draussen marschierten“, sagt Regina Steinitz ernst und ihr Mann Zwi nickt dazu, wie um ihren Worten Nachdruck zu verleihen.
Zwei erfahrene Zeitzeugen
Die Steinitzes, ein Paar mit einer Liebe, die in Israel geboren wurde und einer Vergangenheit, die sich vor allem aus „deutschen Erinnerungen“ speist, sitzen in ihrer Wohnung in einem Vorort von Tel Aviv und haben keine Angst davor zu erzählen. Sie sind das, was man wohl erfahrene Zeitzeugen nennen würde. Es gibt einen ganzen Stapel Bücher von ihnen und über sie, eine Handvoll Dokumentarfilme und viele Fotos mit wichtigen deutschen Politikern. Zwi Steinitz, der eigentlich als Helmut in Posen geboren wurde und eine schier unvorstellbare Odyssee durch Konzentrationslager und Todesmärsche hinweg überlebt hat. Und Regina, die mit ihrer Zwillingsschwester das ganze Grauen von brennenden Synagogen und langsam verschwindendem jüdischen Leben hautnah in Berlin erlebte. Ein Paar, das so gewöhnt daran ist, von ihrem Überleben des Holocausts zu berichten, dass es mit der Frage, was danach kam, erst einmal gar nichts anfangen kann. Und so handelt auch die erste Geschichte über das Leben danach vom Tod. Denn am Ende war es Corned Beef, das Zwi Steinitz fast umgebracht hätte.
Das erste richtige Essen nach dem letzten Todesmarsch, der ihn von Sachsenhausen ins bereits befreite Schwerin geführt hatte, bekam seinem an Hunger gewöhnten Magen nämlich gar nicht. Es gibt wohl einige Überlebende, die zwar die Lager, aber nicht die erste, viel zu fette, Kost danach überlebt haben. Von Schwerin ging Zwi Steinitz‘ Weg weiter nach Lübeck und schliesslich über Belgien nach Frankreich. Sein Ziel: Das damalige Palästina. Dabei war Zwi Steinitz eher ein „zufälliger Zionist“, aufgewachsen in einer assimilierten Familie, deren Patriotismus Deutschland galt: „Irgendwann habe ich mir gedacht: Wenn mich Hitler schon zum Juden macht, dann gehe ich, sollte ich diese Hölle überleben, ins Land der zehn Gebote.“
Dass er auf dem Weg dorthin die Uniform der jüdischen Brigaden trug, die nach dem Krieg dabei half, Juden im Hafen von Marseilles zu versammeln und in Richtung Haifa zu schicken, erzählt er nicht ohne Stolz. Von den Fetzen des KZ-Sträflingsanzuges zur jüdischen Uniform, so beginnen nur Geschichten, die so traurig und hoffnungsvoll zugleich sind wie die von Zwi Steinitz.
„Meine Eltern haben mich gelehrt, immer ein Mensch zu bleiben“
„Die Menschen sprechen immer darüber, dass wir Überlebenden gelitten haben, aber niemand spricht über unsere Eltern. Meine Eltern müssen solche Ängste durchgestanden haben, aber sie haben sich ihre Sorgen nie anmerken lassen“, sagt Zwi Steinitz. Wenn er von seiner „Mutti“ erzählt, wie sie das Ständchen von Schubert am Flügel spielte und dazu sang, kann man kaum fassen, wie sehr auch ein Mann von 88 Jahren noch täglich seine ermordeten Eltern vermissen kann. Überhaupt: Die Liebe und der Respekt, mit denen Regina und Zwi Steinitz von ihren „Kinderstuben“ erzählen, berührt. Nicht nur die kulturelle Erziehung, die Pastorale die gesungen wurde und all die Schiller-, Goethe- und Heinetexte, die man zu Hause las – sondern vor allem die humanistische. „Meine Eltern haben mich gelehrt, immer ein Mensch zu bleiben“, Zwi Steinitz sagt das mit Nachdruck. Denn dort, wo er war, kann das Menschsein wirklich nur als Kraftakt bezeichnet werden. Es war dieses Menschsein, das ihm auch in seinem Leben nach der Shoa immer erhalten blieb.
1946 in Israel angekommen, landete das Stadtkind Zwi im Kibbuz Afikim im Norden des Landes. Er war so lange mit dem Überleben beschäftigt gewesen, dass er erst da richtig begriff, dass er nun in einem fremden Land war. Ohne seine geliebten Eltern und seinen Bruder, als einziger Überlebender seiner Familie. „Es gab niemanden, der uns Neuankömmlingen half. Ich hatte sechs Jahre Schulzeit verloren und niemandem kam es in den Sinn, uns eine Ausbildung zu ermöglichen.“ Zwi Steinitz begann also zu arbeiten. In der Küche, als Wachmann, im Speisesaal und schliesslich in der Blumenzucht, der Bereich in dem er später zum Experten wurde. „Die Arbeit war der einzige Ort, wo wir vergessen konnten“, wirft seine Frau Regina ein, die zwei Jahre später mit ihrer Zwillingsschwester zu ihrem Bruder in denselben Kibbuz kam, „Das waren die wenigen Stunden, in denen wir nicht an das dachten, was uns widerfahren war. Auch deswegen waren wir sehr produktiv.“
Neben der Arbeit hatten die jungen Leute zum ersten Mal seit vielen Jahren auch wieder Zeit und Musse für die leichten Dinge des Lebens: Im Kibbuz war Zwi der einzige mit einem Radio, vor dem er regelmässig „Kol Yerushalaim“, einem Klassiksender, lauschte. Als Regina fragte, ob sie sich zu ihm setzen könne, stellten die beiden schnell fest, dass sie aus der „gleichen, deutschen Welt kamen“. Ein halbes Jahr später heirateten sie und 1952 wird Regina mit dem ersten Kind schwanger: „Mein Zwi hat sich nach einer Familie gesehnt, und nach körperlicher Nähe. Die hatte er ja seit dem Verlust seiner Eltern so nicht mehr erfahren. Und dann war ich schwanger, mit seinem Kind. Seinen Genen. Das war unglaublich“, erzählt die 85-Jährige Frau mit leuchtenden Augen. Ein paar Jahre später folgte dem Sohn eine Tochter, sie sei ein Ebenbild von Zwis „Mutti“.
Erinnerungen, über die man mit niemandem reden kann
In Israel hat das Paar geholfen, ein Land aufzubauen, Zwi als Fachmann für Exportblumen, Regina als Kinderkrankenschwester: „Jedes Kind, das wir gerettet oder auf die Welt gebracht haben, war für mich ein jüdisches Kind, das im Holocaust gestorben war.“ Jahrzehntelang haben sie mit kaum jemandem über ihre Erinnerungen gesprochen. Weil das eben Dinge sind, über die man, so Regina „eigentlich mit niemandem reden kann, ausser mit anderen Überlebenden. Ich hätte auch niemals jemanden heiraten können, der die Shoa nicht erlebt hat“.
Ihre Kinder sollen jedoch ohne die Erinnerungen und die Qual, die Regina und Zwi empfinden, wenn sie an all diejenigen denken, die es nicht geschafft haben, aufwachsen. Von aussen scheint alles wunderbar im Leben der Steinitzes zu funktionieren. Die beiden reisen aufgrund von Zwis Arbeit sogar regelmässig nach Deutschland. Aber als Zwi 60 wird, holen ihn die Erinnerungen ein und er verfällt in eine Depression. Damals beginnt er mit einer Psychotherapie, Regina kurze Zeit später ebenfalls und bis heute sind die beiden in Behandlung.
Die professionelle Hilfe unterstützt sie dabei, mit den Erinnerungen zurechtzukommen. Fast therapeutisch muten ausserdem die vielen Bücher an, die die beiden in den letzten zehn Jahren geschrieben haben. Und auch ihre steten Reisen nach Deutschland, um dort u.a. in Schulen von ihren Erfahrungen zu berichten, sind Teil des Prozesses. „Wir können uns nicht beklagen, was wir alles in unserem Leben erreicht haben“, stellt Regina zufrieden fest. „Ja, aber das Sprechen vor den Menschen ist das Wichtigste“, wirft Zwi ein. Und auf die Frage, ob das nicht manchmal schwer sei, mit all diesen Deutschen Kontakt zu haben, erntet man nur einen verständnislosen Blick: „Aber wir sind doch auch Deutsche!“
Regina und Zwi Steinitz sind zwei Deutsche in Israel, sie haben das Land mit aufgebaut, sie sprechen perfekt Hebräisch aber diese Heimat, die ihnen genommen wurde, die geistige Heimat und die Menschen, die ihnen wichtig waren und umgebracht wurden, diesen Verlust werden sie nie vergessen.
http://www.hartung-gorre.de/steinitz.htm